Mehr als nur ein Vectra?

Dieses Auto hatte es nicht leicht. Nach der Zerschlagung von SAAB-Scania und der Übernahme der Pkw-Sparte durch General Motors hektisch von der Plattform des 9000 auf die des Opel Vectra umgestellt, markierte der 900/II eine neue Ära. Der 900/I war zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt und ein lebendes Fossil. Es war dringend Zeit für etwas Neues. Entsprechend stolz war man in Trollhättan auch auf den neuen SAAB.

Doch das ging furchtbar schief. Zu groß die Fußstapfen, die der 900/I hinterlassen hatte. Zu groß das kulturelle Unverständnis bei GM bezüglich des europäischen Automobilmarktes im Allgemeinen – und der SAAB-Kernkundschaft im Besonderen. Zu runiniert der Ruf von Opel, den Lopez‘ Sparexzesse auf dem Gewissen hatten.
In einer solchen Situation ein noch nicht ganz ausgereiftes Auto auf den Markt zu bringen, es auf die Bodengruppe des Vectra zu stellen und stolz Produktionskosteneinsparungen von 40% zu verkünden war rückblickend wohl keine besonders gute Idee. Die bei Produktionsanlauf unvermeidlichen Kinderkrankheiten, vor Allem aber das furchtbare GM-Speckplastik und das Opel-Kratzvelours ruinierten den Qualitätseindruck des 900/II im Handumdrehen. Daß der Wagen mit Mc-Pherson-Gelump an der Vorderachse und einer häßlichen Verbundlenkerhinterachse dem Vorgänger fahrdynamisch haushoch unterlegen war und sich beim Einlenken nun anfühlte wie ein kreuzbeliebiger Fronttriebler und nicht mehr wie ein SAAB 900, besiegelte sein Schicksal endgültig.
Bis heute gilt dieses Auto als der Anfang vom Ende der Marke.

Aber ist das wirklich fair? War/ist der 900 wirklich so schlecht, wie in der Saabszene oft getan wird?
Vermutlich nicht. Saab besserte stetig nach, die letzten Modelljahre des 900/II (im Folgenden der der Zeichenersparnis halber 902) nahmen etliche Detailverbesserungen und technische Änderungen des 9-3 I (vulgo: 931) vorweg. Geradezu legendär ist der 400.000km-Dauertestwagen – ein 902, der als alter Gebrauchtwagen von einem Kurierfahrer bewußt gekauft und für zeitkritische Hochwerttransporte eingesetzt wurde, weil die aktuellen Neuwagen eines größeren niedersächsischen Automobilkonzerns zu unzuverlässig waren.

Und vielleicht sind auch die Qualitätsmängel im zeitlichen Kontext gar nicht mehr so gravierend. Der Verfasser hatte neulich das zweifelhafte Vergnügen, einen Golf III über grob 200km zu bewegen. Das ist mal ein richtig schlechtes Auto. Merkwürdige Ergonomie, unmögliche Sitzposition, keinerlei Geräuschdämmung – und vor Allem: Sitze, die im Mittelalter als Folterinstrument genutzt worden wären.
Nimmt man dieses Auto als Maßstab, dann spielt auch ein basismotorisierter 902 in Buchhalterausstattung in einer ganz anderen Liga. (Um fair zu bleiben: er war auch deutlich teurer.)

Versetzten wir uns also in die frühen 90er. Was gab es denn sonst? Opels fuhren zuverlässig, hatten aber häßliche Innenräume und rosteten im Zeitraffer. BMW E36 sind auch nicht besonders schön gealtert – billiges Plastik gab es in München genauso. Und in Stuttgart war der  w202 auch nicht mehr so erzsolide wie der 201…
Betrachten wir den Wagen also doch einmal mit der Brille eines Motorjournalisten zum Zeitpunkt seiner Markteinführung. Schauen wir uns den Beitrag des Trafikmagasinet an, der sich im Übrigen auch große Mühe gibt, in der Unteransicht die technischen Unterschiede zum Vectra herauszuarbeiten – unter anderem verbesserte Querlenker und eine geänderte Vorderachsgeometrie.

A propos Unterschiede: Ähnlich wie schon beim tipo4 war man mit der fremden Plattform in Trollhättan nicht wirklich glücklich. In der Sicherheitsarchitektur trennen den 902 vom Vectra Welten, schön zu erkennen an diesem Museumsexponat:

Die Sicherheitsarchitektur des 900/II

Seitenaufprallschutz und hochfeste Stähle an besonders kritischen Bereichen – ein Schnittmodell des Plattformspenders sähe anders aus. Und den Vectra hat meines Wissens nach auch niemand gegen einen simulierten Elch gefahren…

Was also ist zweifellos Opel am 902? Genau ein Motor: der V6. Hinter SAABs Motorcode B258i verbirgt sich nichts anderes als der C25XE aus Vectra A und Calibra. Der GM 54°v6 ist ein guter Motor, aber als drehzahlgieriger Sechszylinder verfolgt er eine gänzlich andere Philosophie als die Trollhättaner Tradition der Drehmomentbüffel. Nicht unbedingt schlecht, nur anders.

Wie fies ist der 902 also wirklich? Oder ist es trotz Opel-Plattform und (selten gekaufter) Opel-Motoren ein echter SAAB? Euer Lieblingsblog wird es in den nächsten Monaten herausfinden, ob die Begeisterung des Trafikmagasinet angemessen war.
Einen kleinen Hinweis erlaube ich mir jedoch schon Vorab: im 902 debütierte das
Night Panel (wenn auch noch unter anderer Bezeichnung). Alleine deshalb sollte man den Wagen mögen müssen.

P.S.: Das Saab-Blog hat eine Unmenge historischen Filmmaterials digitalisiert und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt, unter anderem auch das Werbevideo in der Einleitung dieses Artikels. Die Jungs haben ein großes Dankeschön verdient. Und sollte einer meiner Leser es bis jetzt noch nicht getan haben, so speichere er diese Seite spätestens jetzt als Favoriten.

P.P.S.: Auf dem Saab-Blog ist heute (15.12.) der letzte Artikel einer Trilogie zu Entstehung und Rezeption des 902 erschienen, die ich dem geneigten Leser sehr empfehlen möchte.
Teil 1: Die 900/II-Saga: Projekt x67 und x68
Teil 2: Die 900/II-Sage: Projekt 102
Teil 3: Die 900/II-Sage: sage niemals Opel zu mir

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Über turboseize

Das Leben ist zu kurz für langweilige Autos.
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7 Antworten zu Mehr als nur ein Vectra?

  1. DerEast schreibt:

    Danke für den Text und auch für das einbetten des Trafik-Magasinet-Beitrages. Auch für nicht schwedisch-kundige eine echte Offenbarung. Das „MacPherson-Gelump“ an der Vorderachse würde ich aber nicht per se verurteilen: es gab/gibt genügend Autos auf dem Markt, die selbst dem 901 mit eben genau dieser Bauweise in Kurven und beim Slalom um die Ohren fahren. Das hat nicht der gute alte Mac versaut, sondern die mit dieser Konstruktion nicht genügend vertrauten Techniker in Schweden…

    • turboseize schreibt:

      Diese Autos sind dann aber entweder
      a) leichter
      b) mit einer Mehrlenkerhinterachse ausgestattet
      c) mit einer anderen Antriebsachse versehen
      d) all of the above.

      McPherson funktioniert zum Beispiel beim E30. Sogar noch beim e34. (Ups, die haben ja Hinterradantrieb mit Einzelradaufhängung). Oder bei diversen Frontantriebsalfas (die haben dann eine Mehrlenkerhinterachse mit Kinematik). Oder im Ford Focus (ups, schon wieder ne Mehrlenkerhinterachse).
      Der 902 ist weder leicht, noch hat er eine Mehrlinkerhinterachse, noch Hinterrad- oder Allradantrieb (zum Glück).

  2. DerEast schreibt:

    Ja, schon klar: die Konstruktion der Hinterachse spielt auch beim Kurvenfahren eine nicht unerhebliche Rolle. Trotzdem: den größten Unterschied zwischen 901 und 902 erlebe ich sofort beim Einlenken, zu einem Zeitpunkt, wo die Hinterachse noch kaum mit ins Spiel kommt. Dazu die ultra geringen Lenkkräfte beim 901 – am/s gab damals lächerlich geringe 17NM bzgl der Lenkung im Fahrbetrieb an. Man wollte mit der deutlich schwergängigeren Lenkung beim 902 und dem trägeren Einlenkverhalten wohl das Gefühl eines „schweren“ und damit „soliden“ Wagens beim Kunden hervorrufen-dem Zeitgeist der 90ziger entsprechend. Mehrlenkerhinterachsen sind beim schnellen doppelten Spurwechsel tendenziell instabiler als die quasi-Starrachsen bei Saab: sehr schön beim Test des BMW e34 zu beobachten, den Trafikmagasinet damals auch getestet hat. Deshalb hat man bei Saab wohl auch lange an dieser „veralteten“ Konstruktion festgehalten. Die Kombi ist nicht optimal für ein messerscharfes Kurvenverhalten, da bin ich voll Deiner Meinung…

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